Denhof, Robert

 Besonderheiten der Musikerziehung im heutigen Deutschland
Vortrag auf dem VI Internationalen Festival in Tambow, Russland
im Rahmen der „Deutschen Tage in Tambow“

Denhof, Robert
Komponist, Sänger, Dirigent
Inhaber des Musikverlages ‚Verlag Robert Denhof‘
Berlin, Deutschland
www.verlag-denhof.de 
YouTube: Robert Denhof

Kurzfassung

Der Autor setzt sich mit der Musikpädagogik auseinander. Das im 19. Jahrhundert entstandene einzigartige Sozialsystem trug auch zur Unterstützung von Musikern, Pädagogen und Komponisten bei, der Kunst wurde die erzieherische Rolle zugewiesen. Der Beruf des Lehrers, wie auch des Musikers war hoch angesehen und hoch bezahlt, das Singen zum Beispiel gehörte zu den Prioritätsfächern und stand auf einer Stufe mit Physik oder Mathematik. Aufgrund der Verschlechterung des deutschen Bildungssystems, hat Deutschland seine führende Position in der Musikpädagogik verloren. Die führende Rolle in Europa auf diesem Gebiet spielen Österreich und die Schweiz, wo Fachleute auf dem Gebieten der Kultur und Musik volle Unterstützung des Staates genießen. Die positiven Erfahrungen dieser Länder können ohne Zweifel als Beispiel für jeden Staat sein, dem das Schicksal der Kultur und die Erhaltung des nationalen Erbes an Herzen liegen.

Schlüsselwörter: Musikpädagogik, soziale Unterstützung, Otto von Bismarck, „Kulturkampf“, Schuldisziplin „Singen“, nationale Kultur

Seit dem Mittelalter konzentrierten sich Kultur und Bildung in Deutschland, wie auch in anderen europäischen Ländern, rund um die Kirche und waren völlig von ihrer Unterstützung abhängig. Gerade die Kirche war der wichtigste Besteller und Konsument von Kunstwerken und war zugleich ein „Labor“ für alle Arten der im Entstehen begriffenen Kunst und eine Quelle von Arbeitskräften für sie (die Schicht der Elite oder Staatsaristokratie, die das Kapital die Arbeit der Künstler zu bezahlen hatte, war ganz dünn). Exzellente Universitäten bildeten zu gegebener Zeit sehr wettbewerbsfähige Spezialisten in allen Bereichen der Wissenschaft und Kultur. Im Laufe der Jahrhunderte hat Deutschland eine Unzahl von bedeutenden Persönlichkeiten des Weltmaßstabs gegeben.

In vielerlei Hinsicht trug dazu das im 19. Jahrhundert gebildete einzigartige System der sozialen Unterstützung von Spezialisten bei. Der Gründer dieses Systems, Otto von Bismarck (1815-1898), legte einen großen Wert auf die staatliche Unterstützung der sozialen und kulturellen Entwicklung der Nation auf Kosten der Staatskasse, einschließlich der staatlichen Rente. Es soll betont werden, dass der Kunst damals nicht nur die Rolle der Unterhaltung und der Erziehung zugewiesen wurde. In einem Land, das zu dieser Zeit seine wirtschaftliche und politische Macht rasch entwickelte, wurde die Kunst als eine wichtige treibende Kraft gesehen, die einen erheblichen Einfluss auf die dringendsten ideologischen und Erziehungsprobleme hatte. Aufgrund dieses Ansatzes, war der Beruf des Lehrers, wie auch des Musikers hoch angesehen und hoch bezahlt (das Singen zum Beispiel gehörte zu den Prioritätsfächern und stand auf einer Stufe mit Physik oder Mathematik).

Es ist bekannt, dass alle Kirchen und Wirtschaftsbetriebe eigene musikalische – Chor ,- und Orchestervereine von sehr hohem professionellen Niveau hatten, die außer engen speziellen Aufgaben (Teilnahme am Gottesdienst oder der Freizeitgestaltung), viel für die Erziehung des Volkes im ganzen beitrugen. So wurden in Städten und Dörfern Musikkompositionen ausgeführt (Messen und Kantaten) von Komponisten aus der Zeit des Barock bis zu der modernsten Musik. Durch die Pro-Kopf-Anzahl der Orchester und Chöre belegte Deutschland im XVIII - der ersten Hälfte des XX Jahrhunderts die führende Position in der Welt. Die Rolle der Kirche in der Bildung einer solchen Situation sollte nicht unterschätzt werden. Exkommunikation von der Kirche - Wiege der geistigen und moralischen Erziehung - war vielleicht die schwerste Strafe für einen Menschen. Es ist kein Zufall, dass es Zeiten gab, wo die Kirche als „Zentrum der kulturellen und geistigen Idealen der Moderne“ hieß. Sie gab der Welt die weltberühmten Komponisten und Musiker, Dichter und Schriftsteller, durch deren Talente und Schaffen die deutsche Nation ihren Höhepunkt erreicht hat. Johann Sebastian Bach und seine Kinder, Robert Schumann, Ludwig van Beethoven, Johann Wolfgang Goethe, Immanuel Kant – die Liste kann man unendlich weiterführen. Die Nation erreichte den Höhepunkt seiner Entwicklung, aber, wie so oft, dem schnellen Aufstieg ein Absturz folgte.

Bereits schon zur Bismarcks Zeit traten im politischen Leben Deutschlands Ereignisse auf, die zur Entfremdung eines Teiles der katholischen Bevölkerung vom Staat führten. In 1872-1875 nach Initiative des „Eisernen Kanzlers“ wurde eine Reihe von Maßnahmen gegen die Kirche, wie der „Kulturkampf“ (der Klerus wurde das Recht der Aufsicht über die Schulen entzogen, die Abschaffung der Artikel der Verfassung, die Autonomie der Kirche garantieren und andere) durchgeführt.

Zu Beginn des XX Jahrhunderts wurden immer deutlicher in allen Bereichen der Gesellschaft das Gefühl der Unsicherheit und Angst, die durch den Ansatz der globalen Wirtschaftskrise verstärkt wurden und dass wiederum den Prozess der radikalen Transformation, Umbruch des gesellschaftlichen Bewusstseins beschleunigte, der zu dem Ersten Weltkrieg und zum Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie führte. Die Forderung nach neuen Ideen im politischen System war offensichtlich auch im Bereich der deutschen Kunst:- in Literatur, Malerei, und, natürlich, Musik sichtbar. Die grundlegenden Veränderungen in der musikalischen Sprache wurden von den Vertretern der neuen Richtung - atonaler Musik (A. Berg, Schönberg, etc.) – vollzogen. Das Streben nach Originalität, führte die „Erneuerer“ weit weg von dem Gründer der Musik der Neuen Zeit und der Gegenwart, dem „Propheten“ aller moderner Tendenzen und in der Tat – dem „Prädiktor“ von nahezu alle modernen Musiktrends – Johann Sebastian Bach. Heute ist ein Musiker mit einem entsprechenden intellektuellen und künstlerischen Niveau in der Lage in den 24 Präludien und Fugen von J.S. Bach (auch in verschleierter oder generalisierter Form) eine Vielzahl der „akutesten“ Elementen der musikalischen Sprache – von atonal zu modernen modalen, harmonischen, metrorhythmischen Lösungen bis zu einem Rock-Pop finden. Natürlich ist es unbestreitbar, dass heute in Deutschland einzelne Komponisten in der Beherrschung der neuesten Mittel des musikalischen Ausdrucks bemerkenswerte Leistungen unter Beweis stellten.

Es sollte jedoch betont werden, dass fast alle diese Komponisten Vertreter der alten deutschen Schule des ehemaligen „Sozbloks“ sind: Komponisten aus der ehemaligen DDR und Musiker, die in Deutschland zu ihrer historischen Heimat, aus der ganzen Welt zurückgekehrt sind. Wenn vor dem II Weltkrieg Deutschland, zusammen mit anderen Großmächten, in der Literatur, Malerei, Musik führte, verlor es in den Nachkriegsjahren die erreichte Position immer schneller. Es ist ein starker Abfluss von intellektuellen Ressourcen ins Ausland entstanden: die Deutschen verlassen das Land massenhaft in die Türkei, nach den USA, Australien und andere Länder. Reste des wissenschaftlichen und kreativen Potentials dezimierte Deutschland „erfolgreich“ auf eigener Faust. Die Kunst ist nicht mehr ein Beruf, sondern hat sich zum Zeitvertreib ausgeartet. Selbstverständlich ist das in Generationen aufgebaute kulturelle und wissenschaftliche Potenzial der Nation nicht von heute auf morgen zu zerstören, die Zerstörung braucht zum Glück wieder eine Menge Zeit. Zum Beispiel ist die Tradition Amateurchöre oder Orchestervereine zu gründen erhalten geblieben.

Der Staat hat sich aber aus diesem Bereich zurückgezogen, hat ihn den Amateuren zurückgelassen. Heutzutage muss ein Musiker schon Glück haben, um ein öffentliches Angebot einer staatlich bezahlten Stelle in einer Jugendmusikschule oder einer Musikhochschule zu bekommen. Das ist schon eine Ausnahme, als ein Regelfall. Nun müssen die Chor- und Orchestermitglieder den Leiter selbst bezahlen (in der Regel pro Kopf 5 bis 10 € pro Monat). In dieser Situation ist die Lage des Dirigenten nicht nur von seinen professionellen Fähigkeiten bestimmt, viel mehr – von dem Kulturrat des Chors, beginnend von der Wahl des Repertoires bis zu den Probemethoden. Das Organisationsprinzip – gleichzeitige Unterricht mehreren Schülern, ist a priori nicht auf der Leistung, gleich welcher Unterrichts- und Qualitätsstufe konzipiert: Richtige Bewegung der Hände, Beherrschung des Instruments als Ganze. Diese Vorgehensweise ist voll und ganz materieller Natur: jeder Schüler zahlt 40-60 € pro Monat. Ein erheblicher Teil geht an die Schulleitung und Unterhalt der Arbeitsräume. Ein Musiklehrer, der mehr oder weniger gut verdienen will, muss 40-50 Unterrichtsstunden arbeiten. Dazu noch das neue Gesetz, laut dem jedes Kind jeden Monat ein anderes Instrument spielen lernen muss. Für den skrupellosen Lehrer ist eine gute Gelegenheit Geld zu machen, ohne keine Verantwortung für seine Arbeit zu tragen. Was kann man schon dem Schüler in einen Monat beibringen? Die Situation ist so, dass die Jugendmusikschule am Ende des Jahres nicht imstande ist, für die Eltern ein Schülerkonzert zu geben.

Zu den negativsten Seiten des musikalischen Bildungsprozesses ist die Abwesenheit in dem Lehrplan Fächern wie Solfeggio, musikalische Literatur, musikalische Theorie (Das Spielen auf dem Musikinstrument wird oft nach dem Gehör praktiziert). Den Beruf des Musiktheoretikers gibt im Land überhaupt nicht. Auf ihrer Stele treten Doktoren verschiedener Wissenschaften, nur nicht der Musik. Die weit verbreitete Praxis der Selbstauswahl des Programms zum Einüben vom Schüler ohne mögliche Einwende seitens des Lehrers ist auch zu berücksichtigen. Gibt es Einwende, kann es die Ursache zur Entlassung werden. In den Allgemeinen Schulen Deutschlands (mit Ausnahme des Gymnasiums, und dass nicht überall) ist die Schuldisziplin „Singen“ und damit der Beruf “Lehrer des Singens“ verschwunden. Das Schulprogramm verbietet das Singen der deutschen Volkslieder, anstatt dessen wird die amerikanische Kultur (Gesang und Tanz) weithin populär gemacht - sowohl in den Schulen, als auch in den Medien, im Radio und Fernsehen. Insbesondere gab es einen Austausch von Lehrbüchern der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik von sehr hoher Qualität, die sich zu jener Zeit als Etalon, als Standard erwiesen hatten, wurden durch Literatur der westlichen Analphabeten ersetzt. Viele Deutsche, die sich Sorgen um den Zustand der kulturellen Bildung und der Kunst in Deutschland machen, sprachen mehrfach von der bewussten Vernichtung des nationalen Kulturfonds; Forderungen einzelnen Menschen oder Gruppen die deutsche nationale Kultur wiederzubeleben werden als radikal angesehen mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. So zeigen sich deutlich im Bereich Kultur und Kulturbildung in Deutschland folgende „Merkmale der Zeit“:
- totale Abhängigkeit der Kultur und Bildung von Parteifunktionären und Verwaltungsstrukturen, die weit weg von Professionalität im Bereich der Kunst und künstlerischer Arbeit sind;
- Übergang zur privaten langfristigen Kulturpolitik statt Politik des Staates = des Volkes;
- Zwangspropaganda der Besitzer und Verwalter der Mass-Medien von Ideen, Werten, Prioritäten und Leitlinien, die zum völligen Zerfall der deutschen nationalen Kultur führen;
- ein starker Rückgang der Anforderungen an die Professionalität der Vertreter der kreativen Berufe und, als Folge, ein katastrophaler Rückgang des Ansehens der Gesellschaft diese Art von Aktivität.

Wir stellen mit Bedauern fest, dass aufgrund der Verschlechterung des deutschen Bildungssystems, das Land tatsächlich seine führende Position nicht nur in der Musik verloren hat, sondern auch in anderen Bereichen der künstlerischen und intellektuellen Tätigkeit. Ein offensichtlichster Beweis dafür ist das Verschwinden der Chöre und anderer Arten der traditionellen musikalischen Kreativität, die durch Jahrhunderte die kulturelle Selbstidentität der Nation bekräftigten. Eine gewisse positive Dynamik das aktuelle Muster zu ändern, hat sich im Zusammenhang mit der Massen-Rückkehr in ihre historische Heimat Bürger der UdSSR und anderen sozialistischen Ländern entstanden. Obwohl die Deutschen Musiker aus der ehemaligen Sowjetunion praktisch keine Chance haben, ihre erlernten Berufe in öffentlichen Einrichtungen in Deutschland auszuüben, aber der private Bildungssektor öffnet in diesem Fall ihnen eine gute Gelegenheit dieses Problem zu lösen. Unter den Bedingungen des Wettbewerbs für alle wird es absolut klar, dass die Schüler der deutschen „Rückkehrer“ in allen Wettbewerben den einheimischen unermäßlich überlegen sind. Über die Bewegung (wenn auch mit großen Schwierigkeiten) des Bewußtseins der Gesellschaft in Bezug auf Kultur spricht auch, dass mehr Kinder aus dem öffentlichen Schulen zu privaten wechseln.

An der Spitze der kulturellen und pädagogischen Tätigkeit Deutschlands bleiben noch zwei oder drei Länder mit den am weitesten entwickelten System der allgemeinen Bildung: Bayern, Baden-Württemberg und - weniger - Hessen. Die führende Rolle in Europa auf diesem Gebiet spielen Österreich und die Schweiz, wo Fachleute auf dem Gebieten der Kultur und Musik volle Unterstützung des Staates genießen. Die positiven Erfahrungen dieser Länder können ohne Zweifel als Beispiel für jeden Staat sein, dem das Schicksal der Kultur und die Erhaltung des nationalen Erbes an Herzen liegen.